1 HÄUFCHEN BLUME 1 HÄUFCHEN SCHUH

Anne Rose Katz, Süddeutsche Zeitung, 30.07.1990
Ein Häufchen Blume, ein Häufchen Schuh
Noch stundenlang hätte man ihr zuhören können; nur Originalton Friederike Mayröcker, murmelnd, wie eine Quelle, raschelnd wie das Laub, säuselnd wie eine Nymphe. Nein, alles falsch. Eine monotone, eher abweisende Stimme setzt mit zäher Beredsamkeit einen inneren Monolog in Bewegung. Scheinbar zufällig beginnt er irgendwo und endet ebenso. Die Regisseurin Carmen Tartarotti übt die Tugend des (scheinbaren) Gewährenlassens. Findet dann doch zielstrebig äußere Bilder für das Innenleben der Dichterin.
Eine Frau, über fünfundsechzig, gibt mit widerstrebender Offenheit Auskunft, reflektiert die Aussage sofort, widerspricht, fügt hinzu, macht deutlich und verschleiert. Innenwelt und Außenwelt durchdringt sich untrennbar. Jählings überfällt den Zuhörer, die Zuhörerin die Erkenntnis: Das ist Leben. Sesshaftigkeit und Statik, gepaart mit wilden Flügeln durch Traum und Erinnerung. Immer wieder das Bild schöner Hände auf gedruckten Textseiten, wenn Mayröcker vorliest. Strenge Ordnung von Lettern, drum herum ein Chaos von Papieren, verschlossene Türen und dennoch das Bewusstsein: „Die Außenwelt fällt in mich hinein; fremde Erkenntnisse geliehen, entwendet – alles erpresst.“ Erinnerung an einen Leihund. An Glenn Gould. An Vater und Mutter. Blindflug mit äußerster Sehschärfe. Ständige Produktion aus träger Kreativität. Alle ein/zwei Jahre ein neues Buch (jetzt gesammelt bei Suhrkamp)
 Eine erstaunliche Persönlichkeit, alte Frau und gewesenes Kind, das Leben voller vorgestellter Wirklichkeiten. Zurückhaltend bebildert. Ein Sog, der uns hineinzieht in den Fernsehapparat. Wann passiert das schon mal?
 

Mira Beham, Süddeutsche Zeitung, 13. Mai 1991
Die Poesie des Gegenstandes neu erfinden
Eine der erstaunlichsten Nivellierungsleistungen des Fernsehens ist dessen stereotype Präsentation von Literatur. (...)Literatur und Fernsehen, da tun sich Abgründe an Einfalls-losigkeit auf (...) Dass dem nicht so sein darf und auch nicht so sein muss, will ein neuer Fernsehpreis demonstrieren, der am vergangenen Freitag in München zum ersten Mal verliehen wurde. „Literavision“, initiiert von der Fernsehkritikerin und Publizistin Anne Rose Katz und in Zusammenarbeit mit ihr vom Kulturreferat der Stadt ins Leben gerufen, möchte herausragende Beiträge zur Vermittlung von Literatur im Fernsehen prämieren. Unter der allenthalben galoppierenden Auszeichnungswut dürfte diesem Preis in Zukunft eine heraus-ragende Rolle zukommen: Er gibt nämlich Sinn.
 Sinnvoll ist die mit zweimal 10.000 Mark dotierte LiterVision noch aus einem anderen Grund: Sie mag den Ehrgeiz der in den Sendern jeweils Verantwortlichen wecken, eine Art Fernseh-Feuilletonismus zu entwickeln, der Literatur eben nicht zu einer Aneinanderreihung von Leer- formeln und peinlichen Floskeln verkommen lässt. Die Bilder- und Zeichensprache, die Semantik und Semiotik von filmischer Inszenierung und literarischen Texten sind nämlich durchaus analog und können, kunstvoll komponiert, in eine spannende Wechselwirkung miteinander gebracht werden. Daß solche Erkenntnisse vor den betreffenden Redaktions- türen ausgebremst werden und sich dennoch gegen alle Widerstände auch durchzusetzen vermögen, zeigt das Beispiel des Siegerfilms in der Kategorie „Feature“. Nach einer Jahre langen Odyssee zwischen Hamburg und Wien gelang es der in Frankfurt lebenden Südtirolerin Carmen Tartarotti ihre Idee zu einem Film über die tiefgründige und spröde, sich einer Vereinnahmung durch das flüchtige Medium Film scheinbar vollkommen widersetzende österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker in der ORF-Redaktion ‚Kunst-Stücke’ durchzuboxen. Sechs Monate lebte Carmen Tartarotti in der nähe der Schriftstellerin, in nur wenigen Tagen drehte sie das dreiviertelstündige Portrait ! 1 Häufchen Blume 1 Häufchen Schuh“ und strafte all jene Lügen, die Mayröcker für unfilmbar hielten. Nur mit einer Art innerem Monolog der Friederike Mayröcker unterlegt, dringt der im wesentlichen schwarzweiß gehaltene Film in das düster und beklemmend wirkende Poesie-Reservat der Schriftstellerin ein, und entwickelt einen sogartigen Rhythmus, der, wie Mayröcker selbst gerne formuliert, „das Schreiben zum Leben und das Leben zum Schreiben macht“. Ein in kurzen Zwischen-schnitten aufblitzender schwarzer Panther, der unruhig in seinem Käfig auf und ab läuft, symbolisiert treffend das Dasein einer Literatin, die die Wirklichkeit nur hereinholt, um sie zum Schreiben zu verwerten, gleichzeitig aber die Sehnsucht nach einer Außenwelt hat, der sie sich Stück für Stück in ihrer Literatur preisgibt. Ihr Körper ist eine Maschine, die sie zum Schreiben braucht, in ihrer engen Wohnung kreist sie sich gleichsam in einer erotisierenden Beziehung mit Stapeln von Büchern und Papieren ein, wie weiland Ionesco das Individuum auf der Bühne mit Möbeln zugemauert hat.
Carmen Tartarotti hat eine Introspektion in Friederike Mayröckers Literatur-Gefängnis geschaffen, die niemals indiskret wird und auch nicht der Selbstironie entbehrt (“Die Radi- kalisierung meines Schreibens hat sich analog zur Entradikalisierung meines Schuhwerks entwickelt“ O-Ton Mayröcker). Wichtiger noch: Sie hat das Leben und Werk einer Dichterin zu einem Film transformiert, der so dicht komponiert ist ist und so poetisch, wie ein Text von Mayröcker und damit ein dem Gegenstand angemessenes Kunstwerk geschaffen.
 
 
Wiener Zeitung, 24. 05. 1991
Ausgezeichnete „Kunst-Stücke“
Im Rahmen der 2. Internationalen Frühjahrsbuchwoche in München wurde erstmals ein Preis für Fernsehsendungen über Bücher, Autoren und literarische Themen aus dem Bereich der Belletristik ausgeschrieben. Mit dem Preis der „LiteraVision“ sollen alljährlich Fernseh-sendungen ausgezeichnet werden, die auf exemplarische Weise über Bücher und Autoren informieren. Als erster Preisträger in der Sparte „Feature/Dokumentationen“ wurde die ORF- Produktion „1 Häufchen Blume, 1 Häufchen Schuh“ von Carmen Tartarotti ausgezeichnet.
Anne Rose Katz, die Initiatorin von „LiteraVision“ sagt über die Südtiroler Filmemacherin, die sich auf ungewöhnliche Art mit der Persönlichkeit von Friederike Mayröcker auseinandersetzt. „Sie hat mit ihrem diskreten Film über die Schriftstellerin Friederike Mayröcker etwas schier Unmögliches geschaffen. Eine Autorin, die behauptet, ‚das Sprechen schließt das Schreiben aus und umgekehrt’, zu Aussagen über sich und ihr Werk zu veranlassen, zeugt von hoher Einfühlungsgabe. Friederike Mayröcker gewährt intime einblicke in ihr Leben, in ihre Art des Schreibens und Empfindens, die auch den Wandel der eigenen Person im Laufe von Jahrzehnten deutlich machen. Carmen Tartarotti ist es gemeinsam mit Bodo Hell gelungen, Werk und Autorin als Einheit darzustellen.
 

Günther Nenning, Züricher Weltwoche, 1991
Vom Alltag in die Katastrophe
Wir alle sind moderne Dichter: Ihr Thema ist der Alltag in allen seinen Variationen, von Langeweile zur Katastrophe und wieder retour. Das ist auch unser Lebensthema. Sie reimen nicht. Wir auch nicht. Sie schreiben unverständlich. Unser Leben ist auch unverständlich. Also sind wir sehr verwandt. Diese Verwandtschaft von einfachen Menschen und komplizierten dichtern wurde mir unlängst dramatisch bewusst, binnen 48 Stunden, die ich damit verbrachte, Filme zu sehen, so ziemlich ununterbrochen in einer Jury sitzend für den neuen Preis der Stadt München, „LiterVision“; Fernsehfilme über moderne Dichter. Der  ausgezeichneteste – er wurde auch tatsächlich ausgezeichnet – Dichterfilm, einstündig, war der über Friederike Mayröcker von Carmen Tartarotti. Frau Mayröcker schreibt, meint die Literaturwissenschaft, „konkrete Poesie“. Die heißt so, weil sie sehr abstrakt ist. Mit einigen Worten, einigen Sätzen soll der ganze Weltzusammenhang, die gesamte Lebenserfahrung getroffen werden.(...) Frau Mayröcker ist Pensionierte im besten alter (67), in Wien, und lebt auch so. Ihre Wohnungstür hat eine spezielle Verriegelung, zwei oder drei Schlösser und ein Scherengitter zusätzlich. Wenn sie verreist, immer seltener, legt sie auf den Vorzimmerboden ein Schild „HIER ALLES TABU“. Sie weiß, dass es gegen Einbrecher nichts nützt. „Es ist ein Spiel“, sagt sie. Frau Mayröcker will ihre Wohnung am liebsten gar nicht verlassen. Zwar geht sie gerne spazieren, aber meist fehlt ein ausreichender antrieb. So bleibt sie daheim, abgesehen vom Einkauf im Supermarkt. Das alles kennen wir doch alle. Das soll ein Dichterleben sein? Aber vielleicht – nein sicher, zumindest in unseren Zeiten – schreiben die Dichter gar nicht vom außergewöhnlichen, sondern von dem, was zum normalen Spießerleben passt, zu unserem, zu ihrem. Das Ungewöhnlichste, das der Mensch erleben kann, ist und bleibt das Leben selbst. Mayröcker: „... und während ich die ersten Bissen der Mahlzeit hinunterschlinge, macht sich eine Verminderung meines Heißhungers schon bemerkbar, verspüre ich schon, wie das Heißhungergefühl abnimmt, wie der Platz für weitere Speise-aufnahmen sich verringert, Sattelmagen Sackmagen, Henkel...Füße hängend von Bettkante, Wollsocken sommers und winters, Hausschuhe, schmutziger Wams... und in der Mitte des Himmels ein dunkler Vogel, wie ein Winken von schwarzen Wimpern schweift er am Fenster vorüber, berührt beinah die Scheiben, sekundenlang zwischen dem Rosengewölk, und sekundenlang fühle ich etwas wie Glück, so ein zaghafter Versuch(....)“ Stöckel- und Turnschuhe
„Je radikaler mein Schreiben, desto entradikalisierter ist mein Schuhwerk“, sagt die Dichterin. Sie trägt im Sommer bequeme Turnschuhe, im Winter Schnürschuhe, „die auch nicht sehr ansprechend sind“, fügt sie hinzu. „Früher trug ich ganz hohe Stöckelschuhe, überhaupt sehr modisch betonte Kleidung, ich war ja so eitel, ich kann das gar nicht verstehen heute“. Ja, das ist was anderes als Fernsehen. Verglichen mit der Wirklichkeit der Welt, ist die Wirklichkeit des Fernsehens ein Schwindel – ein Filter zwischen uns und der Wirklichkeit, manches wird durch-gelassen und manches nicht.(....)
 
 
Alto Adige, 14. Mai 1991
Der Film überzeugt alle Juroren
Die Latscherin Carmen Tartarotti war bisher auch im Ausland bekannter als in Südtirol. Ihre Arbeiten sind keine großen Kinoknaller, aber sie haben Qualität. Der Beweis dafür wurde spätestens vergangene Woche erbracht. Eine fünfköpfige Jury hat dem Film „1 Häufchen Blume 1 Häufchen Schuh“ den deutschen Fernsehpreis „Literavision“ zugesprochen, und dies einstimmig. Der Preis ist für Fernseharbeiten gedacht, die sich mit Autoren und Büchern beschäftigen und diese „auf exemplarische Weise“ ins Bild setzen. Am Wettbewerb nehmen Arbeiten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz teil, vorgeschlagen werden die Filme von den öffentlich-rechtlichen Anstalten und von Privatsendern. Zur Jury zählten: Günther Nenning (Vorsitzender), Anne rose Katz und Christina von Braun als Publizistinnen, Klaus Podak (Süddeutsche Zeitung) und Barbara Sichtermann (die Zeit). 
Carmen Tartarotti hat in „1 Häufchen Blume 1 Häufchen Schuh“ die österreichische Autorin Friederike Mayröcker porträtiert. „Friederike Mayröcker gilt als ´nicht telegen´, das hat mich besonders interessiert, erzählt Tartarotti. Sie hat „ein dem Gegenstand angemessenes Kunstwerk geschaffen“, so die „Süddeutsche Zeitung“. Die in Meran und Frankfurt lebende Filmemacherin hat gerade ein paar Drehtage in Martell hinter sich. „Paradiso del Cevedale“ entsteht genauso abenteuerlich wie der Mayröcker-Film: mit einer Idee, viel Durchhalte-vermögen und Sinn fürs Sparen.
 
Die Presse, 27.07.90
Vor zwei Jahren hat die Südtiroler Filmemacherin Carmen Tartarotti unter dem Titel „Die Kunst ist gegen den Körper des Künstlers gerichtet“ ein Portrait von Elfriede Jelinek gedreht, jetzt zeigen die ORF-Kunststücke ihr Portrait der Autorin Friederike Mayröcker: 1 Häufchen Blume, 1 Häufchen Schuh. In Zusammenarbeit mit Mayröckers Schriftsteller-Kollegen Bodo Hell ist dabei eine visuell anspruchsvolle Dokumentation entstanden, deren Leitmotiv Zitate aus ihrem 1988 erschienenen Text „mein Herz mein Zimmer mein Name, bilden. Die Welt der Friederike Mayröcker ist ihre Wohnung, mehr Archiv und Arbeitsraum als ein Ruhepunkt, unzählige Stapel von Papier und Büchern sind hier angehäuft. Hier, so erzählt die Künstlerin, sind beinahe alle ihre arbeiten entstanden. Mit dieser Wohnung, mit diesem kreativen Chaos, fühlt sie eine Verbundenheit, die sie auch davon abhält, lange diesen vier wänden fern zu bleiben. Eine seltsame Theorie wird hier spontan entwickelt, eine Theorie die den Zusammenhang zwischen Literatur und Lebensform zum Gegenstand hat: Als Kind, so Mayröcker, hat sie bevorzugt „Christus-Sandalen“ getragen, jetzt begnüge sie sich mit gewöhnlichen, fast schmucklosen Halbschuhen – „so geht die Radikalisierung meines Schreibens mit der Entradikalisierung meines Schuhwerks einher.“